Angeblich geringes Infektionsgeschehen an Schulen: Wie Stark-Watzinger die Wissenschaft zurechtbiegen lässt

BERLIN. Vor dem Schulstart in acht Bundesländern versucht das Bundesbildungsministerium, in der wissenschaftlichen Debatte um das Infektionsrisiko in Schulen mitzumischen – und blamiert sich mit einer falschen Behauptung auf Twitter. Ist das der neue Stil von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP)? Ihr Kabinettskollege, Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), zeigt sich derweil durch (echte) Daten aus Großbritannien alarmiert.

Die FDP-Politikerin Bettina Stark-Watzinger ist als neue Bundesbildungsministerin sehr darum bemüht, den Präsenzunterricht um jeden Preis zu bewerben. „Wir müssen alles tun, um die Schulen auch mit Omikron offen zu halten“, so lässt sie sich auf Twitter zitieren. Alles tun – meint das: notfalls auch die Wissenschaft biegen?

„Studien zeigen, dass Schulen für sich keinen übermäßigen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben. Es zeigt sich aber, dass Schulschließungen negative Auswirkungen vor allem für das psychische Wohl der Kinder haben. Viele Grüße, die Social-Media-Team“, so heißt es nämlich aktuell im Twitter-Kanal des Bundesbildungsministeriums (falscher Artikel im Original).

Die Grünen-Politikerin und Bildungsexpertin Marina Weißband fragt umgehend nach: „Studien? Können wir dazu Quellen haben, bitte? Würde mir die Studien gern ansehen.“

Tatsächlich werden die Studien in der Antwort angegeben:

  1. SARS-CoV-2 circulation in the school setting: A systematic review and meta-analysis (Martinoli et al.)
  2. Transmission of SARS-CoV-2 by children and young people in households and schools: a meta-analysis of population-based and contact-tracing studies (Viner et al.)
  3. Risk of infection and transmission of SARS-CoV-2 among children and adolescents in households, communities and educational settings: A systematic review and meta-analysis (Irfan et al.)

Das Problem: Keine einzige der Studien sagt das aus, was das Bundesbildungsministerium behauptet. Der Physiker und Wissenschaftsjournalist Markus Pössel hat sich die drei Untersuchungen im Detail angeschaut. „Kurzfassung: Die Studien belegen die Behauptung leider nicht, sondern widersprechen ihr zum Teil sogar“, so schreibt er – und begründet das in einem Blogbeitrag auf Spektrum.de ausführlich.

Sein Fazit: „Zur Rolle von Schulen für das Infektionsgeschehen finde ich da nichts Aussagekräftiges. Dazu müsste man ganz andere Zusammenhänge betrachten als in jenen Studien untersucht. Und man müsste insbesondere untersuchen, wie sich das Virus zwischen den einzelnen Untergruppen verbreitet. Dass eine Familie sich gegenseitig ansteckt, sobald ein Mitglied infiziert ist, dürfte sehr wahrscheinlich sein. Dass in diesem Sinne Schulen sicherer sind als gegenseitiger Umgang mit der Familie ohne Maske und in kurzem Abstand: klar, geschenkt. Aber zur möglichen Rolle der Schulen könnte auch unter solchen Umständen eine Art Verteilerfunktion gehören (wie sie bei Grippewellen ja offenbar gegeben ist). Wenn sich von 1000 Schüler*innen nur 50 in der Schule anstecken, jede*r dann aber wieder 2 Familienmitglieder bei sich zuhause ansteckt, könnten wir ja auch nicht einfach sagen: Ha, Haushalt ist gefährlich, dort 100 Ansteckungen, in der Schule dagegen nur 50! Sondern dann hätte die Schule eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung und damit bei der Infektionsdynamik gespielt, ohne dass das direkt an den reinen Fallzahlen des Zahlenbeispiels abzulesen gewesen wäre.“

Auch auf Twitter fallen Reaktionen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verheerend aus:

Tatsächlich hätte das Bundesbildungsministerium nur mal bei der Kultusministerkonferenz anfragen brauchen, die unlängst den Stand der Forschung zur Rolle von Schulen in der Pandemie zusammentragen ließ – den dann allerdings nur widerwillig veröffentlichte, wie News4teachers berichtete.

Darin heißt es: „Der Beitrag, den Kontakte mit in der Schule infizierten Menschen am Gesamtgeschehen in der allgemeinen Bevölkerung haben, hat sich über die Zeit verändert. Dies galt auch innerhalb der 3. Welle, in der wir den Beitrag in Infektionsmodellierungen zwischen 5 und 12% schätzen. Dieser Beitrag steigt seit KW 33 deutlich an und wird in den nächsten Wochen vermutlich über das Maximum der 3. Welle steigen.“

„Insgesamt zeigt sich, dass Schulschließungen effektive Instrumente zur Eindämmung der Epidemie sind“

Dabei ist festzuhalten, dass mit „Gesamtgeschehen“ lediglich die offiziell erfassten Infektionen gemeint sind – bevor in Schulen getestet wurde, waren Kinder (weil Ansteckungen mit dem Coronavirus bei ihnen meist symptomlos bleiben) statistisch unterrepräsentiert. Das hat sich mit den Tests von Schülerinnen und Schülern geändert. Und siehe da: Die Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen übersteigen die der übrigen Altersgruppen um das Dreifache. Die Schulen sind also sehr wohl nennenswert am Infektionsgeschehen in Deutschland beteiligt.

Deshalb heißt es auch in der Studie: „Insgesamt zeigt sich in den Übersichtsarbeiten, dass Schulschließungen effektive Instrumente zur Eindämmung der Epidemie sind.“

Vielleicht wäre ein Anruf im Bundesgesundheitsministerium auch nicht schlecht gewesen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) twitterte nämlich erst gestern – unmittelbar vor dem Schulstart in acht Bundesländern also: „Daten aus UK zeigen bei Kindern erschreckende Werte. Da Omicron durch Masken gut abgewehrt werden kann, sind Maskenpflicht in der Schule und regelmäßiges Testen absolut notwendig.“ Entwarnung klingt anders. News4teachers