Als die heute 65-jährige Biochemikerin Katalin Karikó mit ihrem Mann und ihrer damals zweijährigen Tochter in die USA zog, hatte sie nicht mal ein Telefon oder eine Kreditkarte. „Es war ein One-Way-Ticket. Wir kannten niemanden“, erzählt sie Business Insider.
Es war 1985. Die kleine Familie wanderte von Ungarn nach Philadelphia, USA, aus. Grund war, dass Wissenschaftlerin Karikó eine Stelle an der Temple University bekommen hatte. Ihnen wurde der Umtausch von nur 100 US-Dollar erlaubt, doch Karikó fand einen Weg, um zusätzliches Geld mitzunehmen: Sie versteckte 900 britische Pfund in dem Teddybären ihrer Tochter. Das Geld stammte aus dem Verkauf des Autos ihrer Eltern auf dem Schwarzmarkt.
Und so startete Karikós Karriere. Im Jahr 2005 schließlich, zwanzig Jahre später, fand sie einen Weg, mRNA — ein Molekül, welches die Produktion von Proteinen anheizt — so zu konfigurieren, dass es nicht von den natürlichen Abwehrkräften des Menschen bekämpft wird. So ebnete sie den Weg für eine der zurzeit wichtigsten wissenschaftlichen Erfolge: den weltweit ersten mRNA-Impfstoff.
Karikó, die heute 65 Jahre alt ist, betreut die Anwendung der mRNA-Technologie bei Biontech — dem deutschen Unternehmen, das in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Pharmakonzern Pfizer einen Covid-19-Impfstoff entwickelt hat. Der Impfstoff wurde bereits in Großbritannien, Kanada, Bahrain, Saudi-Arabien und den USA zugelassen.
Die Arbeit von Karikó hat auch die Impfstoffentwicklung des Unternehmens Moderna inspiriert. Beide Impfstoffe basieren auf der mRNA-Technologie, um eine Immunreaktion des Körpers hervorzurufen. Und bisher scheinen beide Impfstoffe äußerst wirksam im Kampf gegen Covid-19 zu sein: Der Biontech/Pfizer-Impfstoff soll bis zu 95 Prozent wirksam sein, Modernas bis zu 94,5 Prozent.
Wissenschaftler erwarten zwar, dass die Wirksamkeitsrate nach der breiten Anwendung etwas zurückgehen wird, doch die bisherigen Ergebnisse sind wesentlich besser als zuvor erwartet. Für Karikó kommt dieser Erfolg nach einem langen, steinigen Weg.
„Jeder hat die Idee abgewiesen“
Karikós erster mRNA-Therapie-Förderungsantrag wurde im Jahr 1990 abgewiesen, ein Jahr nachdem sie an der University of Pennsylvania angefangen hatte. Danach kam eine Ablehnung nach der anderen. „Ich habe weiter geschrieben und das Konzept verbessert — bessere RNA, bessere Vortragsweise“, erzählt Karikó. „Ich habe mich immer wieder beworben und so versucht, staatliche Gelder oder private Unterstützung von Investoren zu bekommen — alle haben abgelehnt.“
Karikó wurde dann im Jahr 1995 sogar auf eine niedrigere Position zurückgestuft. Als wäre das nicht entmutigend genug, wurde bei ihr zu dieser Zeit Krebs diagnostiziert. Außerdem wurde ihr Mann in Ungarn festgehalten, da es Probleme mit seinem Visum gab. Am Ende durfte er ganze sechs Monate lang nicht in die USA einreisen. Und trotzdem: Karikó forschte weiter.
Was sie damals noch nicht wusste: Ihre Untersuchungen zur RNA würden später einmal die Grundlage für die Covid-19-Impfstoffe liefern. Diese neuen Impfstoffe nutzen einen kleinen Teil der mRNA des Coronavirus, um dem Körper zu signalisieren, dass er sogenannte Spike-Proteine bilden soll. Diese helfen dem Virus nämlich, Zellen zu befallen und anzugreifen. Sobald der Körper diese Spike-Proteine wahrnimmt, kann er Antikörper produzieren, die Proteine neutralisieren — und sich so gegen das Virus schützen.
Im Gegensatz zu traditionellen Impfungen stimulieren mRNA-Impfstoffe die Produktion von Killer-T-Zellen, die die Vermehrung des Virus stoppen. Zudem sind solche Impfstoffe relativ einfach und schnell zu produzieren, da sie in Reagenzgläsern hergestellt werden und nicht in Zellkulturen.
Bevor der erfolgreiche mRNA-Impfstoff allerdings überhaupt entwickelt wurde, musste Karikó eine große Blockade überwinden: Ihre Forschung hatte in Versuchen mit Mäusen eine gefährliche Immunreaktion hervorgerufen.
Eine preiswürdige Entdeckung
Karikó hat herausgefunden, dass im Labor hergestellte mRNA vom Körper erkannt und als Eindringling ausgemacht wird. Der Körper würde darum die mRNA sofort zerstören, bevor die Proteinherstellung getriggert werden könnte. Versuche mit Mäusen haben gezeigt, dass es sogar zu einer Entzündungsreaktion kommen kann, die die Gesundheit der Patienten extrem beeinträchtigen könnte. So mussten Forscher einen Weg finden, wie der Körper die mRNA nicht mehr als Gefahr einstufen würde.
Katalin Karikó hat jahrelang an einer Lösung für dieses Problem gearbeitet. Ihre normalen Arbeitstage starteten um sechs Uhr morgens, sie arbeitete auch am Wochenende und Feiertagen — und übernachtete teilweise sogar im Büro. „Von außen betrachtet sieht das sicherlich verrückt aus. Aber ich war glücklich im Labor. Mein Mann sagt bis heute, dass es wie Unterhaltung für mich sei. Ich gehe nicht zur Arbeit, es ist eher wie ein Spiel“, erzählt sie.
Zur gleichen Zeit wuchs ihre Tochter zur Olympia-Athletin heran. Susan Francia hat in den Jahren 2008 und 2012 Goldmedaillenfür das US-Ruderteam gewonnen. Karikós Stelle an der Universität von Pennsylvanis hat es ihr ermöglicht, Tochter Susan aufs College schicken zu können. „Ich dachte, dass ich mir das niemals leisten könnte. Also egal was komme, ich musste meine Arbeit behalten“, erinnert sich Karikó.
Im Jahr 1997 lernte Karikó den Professor und Molekularbiologen Drew Weissman kennen. Er hatte gerade eine Stelle an der University of Pennsylvania angenommen. Die beiden begannen gemeinsam an dem mRNA-Problem zu arbeiten. Den beiden gelang es schließlich, durch eine leichte Modifikation an den sogenannten Nukleosiden, die gefährliche Reaktion bei den Mäusen vollständig zu stoppen.
Katalin Karikó wollte zu 100 Prozent sichergehen, dass ihnen auch wirklich kein Fehler unterlaufen war. „Ich wiederholte das Experiment, weil ich glaubte, es hätte vielleicht doch nicht funktioniert.“Doch sie fand keinen Fehler — und das Forscherduo veröffentlichte seine Erkenntnisse im Jahr 2005. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten die Entdeckung von Karikó und Weissman bis heute für nobelpreiswürdig.
Eine komplett neue Entdeckung
Doch selbst nach Karikós Entdeckung mussten Wissenschaftler noch herausfinden, wie genau man den Körper davon abhält, die mRNA zu schnell zu zerstören. Robert Langer, US-amerikanischer Professor und Chemieingenieur, hatte ebenfalls an mRNA-Impfstoffen gearbeitet und dabei viele Rückschläge erlebt. 1976 hatte Langer eine Schrift veröffentlicht, die nahelegte, dass Nukleinsäuren wie DNA und RNA von einem sogenannten Polymer umhüllt werden. Ein solches Polymer, so Langer, könnte die Säuren freisetzen, ohne eine entzündliche Reaktion hervorzurufen.
Seine These hat Langer viel Kritik eingebracht. Die meisten Menschen haben seinen Erkenntnissen nicht geglaubt. Doch die Technologie, die auf seinen Erkenntnissen basiert, würde — wie sich zeigte — bahnbrechend für die Wirkstoffabgabe sein, die heute etwa bei einer Chemotherapie genutzt wird. Die aktuellen mRNA-Coronavirus-Impfstoffe beinhalten ein ähnliches Molekül, das es ermöglicht, dass die mRNA die Membran durchdringen kann.
„Über die Jahre habe ich vor allem immer bessere und bessere Systeme der Wirkstoffabgabe entwickelt“, sagt Robert Langer. Im Jahr 2010 hat Langer dann unter anderem mit dem Stammzellbiologen Derrick Rossi und dem Medizinprofessor Timothy Springer ein Unternehmen gegründet, das auf mRNA-Therapie spezialisiert ist: Moderna — den Konzern, dessen Impfstoff gegen das Coronavirus in Deutschland aktuell noch auf seine Zulassung wartet.
Ein Tauziehen um die Patente
Karikó und Weissman haben — kurz nachdem sie ihre Arbeit veröffentlicht hatten — ein Patent beantragt. Als es ihnen schließlich vorgelegt wurde, stand Karikós Name an zweiter Stelle. „Ich sagte: ,Nein, es war meine Idee. Ich will an erster Stelle stehen’“, erzählt sie.
Ihr Beharren war möglicherweise eine Reaktion auf den Sexismus, den sie immer wieder im Laufe ihrer Karriere erleben musste. Sie erzählt, dass sie etwa nach ihrem Vorgesetzten gefragt wurde, obwohl sie bereits in ihrem eigenen Labor arbeitete. Zudem wurde sie in Fachzeitschriften oft nur als „Mrs. Karikó“ betitelt, während ihre männlichen Kollegen immer als „Professor“ vorkamen. „Ich arbeite in keinem Labor von jemand anderem. Ich habe meinen eigenen Bereich geschaffen“, sagt sie.
Mit ihrem Patent haben Karikó und Weissman dann das Unternehmen RNARx gegründet. 2010 hat die University of Pennsylvania eine exklusive Lizenz des Patents an Gary Dahl, Geschäftsführer des Laborlieferanten Cellscript, verkauft. Kurze Zeit später war auch Moderna an einer Lizenz des Patents interessiert — dafür war es allerdings schon zu spät.
Ohne das Patent musste Moderna selbst eine Modifikation der Nukleoside erarbeiten, um selbst auf Karikós Ergebnisse zu kommen. Im Jahr 2014 gelang es Moderna — das Unternehmen erhielt ebenfalls ein Patent.
Das Ende einer jahrzehntelangen Reise
Der Wettbewerb im mRNA-Bereich wächst weiter. Im Jahr 2013 wurden Modernas Forschungen mit 240 Millionen US-Dollar des britischen Pharmaunternehmens Astrazeneca unterstützt. Moderna sollte versuchen, mRNA-Behandlungen gegen Krebs zu entwickeln.
Katalin Karikó wurde eine Beförderung an der University of Pennsylvania nicht gewährt, sie „entspreche nicht der Qualität der Fakultät“, sagte man ihr. Das erzählte sie dem Nachrichtenportal „Wired“. Stattdessen nahm sie eine Stelle als Senior-Vizepräsidentin des deutschen Unternehmens Biontech an. „Als ich erzählte, dass ich bei Biontech anfangen würde, wurde ich ausgelacht und bekam gesagt, dass Biontech ja nicht mal eine Webseite hätte“, erzählt sie. 2017 gelang es ihr, gemeinsam mit anderen Forschern von Biontech, einen mRNA-Impfstoff zu entwicklen, der Mäuse und Affen vor dem Zika-Virus schützte.
Nun wurde der erste mRNA-Impfstoff überhaupt für die Anwendung am Menschen zugelassen: der Impfstoff von Biontech/Pfizer gegen das Coronavirus. Modernas Impfstoff wurde zumindest in den USA ebenfalls schon zugelassen. Weder Karikó noch Robert Langer waren überrascht, dass gleich zwei mRNA-Impfstoffe erfolgreich im Kampf gegen Covid-19 zu sein scheinen. „Das folgt dem Weg, dem wir schon zuvor gegangen sind“, so Langer.
Wie Karikó sieht Robert Langer den Impfstoff als Höhepunkt seiner jahrelangen Arbeit. Als er erfuhr, dass der Moderna-Impfstoff tatsächlich wirksam ist, habe er bescheiden gefeiert. Nun verbringt er seine Tage wie zuvor: Er spricht mit seinen Studierenden und seinen Kolleginnen und Kollegen von Moderna über Zoom. Katalin Karikó erzählt, dass sie in der Nacht, bevor die Biontech/Pfizer Ergebnisse veröffentlicht wurde, ihren freudigen Anruf erhalten habe. Sie habe sich daraufhin mit einer Tüte Schoko-Erdnüsse belohnt.
Dieser Artikel wurde von Siw Inken Forke aus dem Englischen übersetzt. Das Original findet ihr hier.