Wer schreibt, bleibt. Auf die Urheber der Briefe, die ich vor kurzem in meinem Keller wiederfand, trifft das zu. Bei einem Umzug stieß ich auf eine Kiste mit alten Erinnerungen. Darin waren Zeitungsartikel sowie Post- und Visitenkarten. Und viele Dutzend Briefe. Deren Autoren waren nun stolze 30 Jahre in dieser Kiste und in meinem Kopf als Erinnerung geblieben. Ich hatte damals, als Teenager, zwei Mal an Freizeiten der Schüler- und Studentenmission SMD teilgenommen, nach Schweden und nach Norwegen. Danach blieb man wie selbstverständlich über Briefe in Kontakt.
Ja, die aus Papier, mit Füller oder Kuli geschrieben und mit Briefmarken versehen (damals 100 Pfennig). Erstaunlich, was man sich damals alles zu sagen hatte! Es gab eben noch keinen Short (!) Message Service (SMS) und kein Whatsapp. Wenn man jemandem einen Brief schrieb, dann bestand der mindestens aus einer Seite, und die konnte dann auch gleich, wenn man schon dabei war, beidseitig beschrieben werden. Und so erzählte man sich, was man die Woche über getan hatte, welche Gedanken wichtig erschienen, welches Buch, welcher Bibelvers oder welche Unterhaltung im Gedächtnis geblieben war. Beide nahmen sich Zeit: Der Briefeschreiber und der Briefeleser.
Ist Ihnen einmal aufgefallen, dass die meisten historischen Kenntnisse über die vergangenen Jahrhunderte in Form von Briefen zustande kommen? Wer mit wem was gemacht hat, wer sich wann wo mit wem getroffen hat und welche Gefühle in jemandem steckten, der im, sagen wir, 17. Jahrhundert gelebt hat – alles auch heute noch nachzuverfolgen dank Briefe. Wer wird in 300 Jahren noch alte Server von Google, Web.de und GMX untersuchen, um zu sehen, wie die Menschen im 21. Jahrhundert gedacht haben?
Paulus schrieb an die Apatschen
Christen lesen und zitieren ständig aus Briefen, das Neue Testament besteht ja quasi daraus. „Paulus schreibt im Brief an die…“ gehört so fest zum Repertoire einer ordentlichen Predigt, dass an dieser Stelle erneut Robert Gernhardt zitiert werden muss mit einem Gedicht: „Paulus schrieb an die Apatschen: Ihr sollt nicht nach der Predigt klatschen. (…) Paulus schrieb den Irokesen: Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen.“
Auch die christliche Erbauungslektüre ist voll von Briefwechseln. Gerade erst sind bei SCM die Briefe zwischen Dietrich Bonhoeffer und seiner Verlobten Maria von Wedemeyer veröffentlicht worden („Geliebter Dietrich“). Herzzerreißend ebenso die kämpferischen Bekenntnisse der Geschwister Scholl. Martin Luther hat viele hundert Briefe hinterlassen, die theologisch und historisch noch heute von Bedeutung sind. Briefe in Papierform überdauern Jahrhunderte; die Disketten aus meiner Jugend kann ich schon jetzt, wenige Jahrzehnte später, nicht mehr auslesen.
Das handschriftliche Formulieren führt zu besseren und kreativeren Texten, sagen manche. Die Bewegungen von Arm und Hand aktivieren angeblich ähnliche Hirnregionen wie die fürs Sprechen und Denken. Und wer sich besser an Dinge erinnern möchte, schreibt sie besser mit der Hand auf und nicht mit einer Tastatur. Fest steht: Wer die kleine eingeblendete Tastatur auf dem Smartphone benutzt, benutzt da eigentlich eine technische Notlösung für Zwischendurch und schreibt somit gezwungenermaßen kürzer. Aber es soll ja auch moderne Autoren geben, die auf dem Handy schon ganze Bücher geschrieben haben, wie etwa der 16-jährige Max Sprenger, der durch einen Unfall fast aller Bewegungsmöglichkeiten beraubt wurde und nur mit seinem Daumen seine Geschichte um Bangen und Beten in „Tsunami im Kopf“ aufschrieb (erschienen als Buch im adeo-Verlag).
Wer einen Brief schreibt, zeigt dem Empfänger Wertschätzung. Nicht nur dass da jemand einen gewissen Aufwand betrieben hat (das Schreiben selbst, das Aussuchen von Briefpapier und Umschlag, das Organisieren der Briefmarke und der Gang zum Briefkasten). Er oder sie hat sich auch mehr Gedanken gemacht bei der Formulierung. Es muss ja nicht gleich ein Federkiel sein, aber fühlt man sich nicht, sobald man den Füller über das Papier führt, gleich ein bisschen wie ein kleiner Marcel Proust?
Natürlich: Wer einen Brief schreibt, setzt voraus, dass der Empfänger Zeit und vor allem Geduld genug hat, ihn auch zu lesen. Aber mal ehrlich: Wer würde einen handschriftlichen Brief ungelesen wegwerfen? Wer wirklich etwas Wichtiges sagen will, schreibt einen Brief. Ein Brief ist und bleibt etwas Persönliches. Nicht umsonst zählt immer noch bei manchen Behördenangelegenheiten nur der persönlich unterzeichnete Brief als Identifikationsnachweis. Nach meinem Umzug glaubte mir meine (durchaus moderne) Bank meinen Adresswechsel erst, nachdem ich ihn ihr in einem unterschriebenen Brief bestätigte.
Landschaftsbeschreibung oder Schnappschuss
Man stelle sich vor, Paulus würde heutzutage eine E-Mail an die Gemeinde in Korinth schreiben. Eine E-Mail ist schnell mal eben abgeschickt, spätere Einfälle oder Links kann man immer noch in weiteren Mails oder in einer Whatsapp-Nachricht hinterherschicken. Der Text ist in einer Sekunde beim Empfänger, und, wenn man will, auch bei 300 Empfängern. Wer aber im 1. Jahrhundert nach Christus einen Boten auf den Weg schickte, setzte ihn einem Fußmarsch von bis zu einigen Wochen sowie Strapazen und Gefahren aus. Auch heute noch überlegt man sich als Briefeschreiber noch einmal gut, ob man noch etwas hinzufügen möchte, bevor man den Umschlag zuklebt. Man sortiert automatisch seine Gedanken, und das kann nichts Schlechtes sein.
Früher wäre man gezwungen gewesen, eine Landschaft zu beschreiben, durch die man im Urlaub gewandert ist, und die einem besonders eindrücklich im Gedächtnis geblieben ist. Heute macht man mit dem Smartphone ein Foto, das einen Moment später schon bei den Liebsten daheim ist, eventuell mehrere Wochen Fußmarsch entfernt. Das trainiert jedenfalls nicht gerade die eigene Ausdrucksfähigkeit.
Niemand sagt, dass Briefe lang sein müssen. „Ich hätte gern einen kürzeren Brief geschrieben, aber dafür hatte ich nicht die Zeit“, schrieb der gläubige Mathematiker Blaise Pascal. Aber wann haben Sie zuletzt in einem längeren Textabschnitt einem Freund oder einem Familienmitglied mit eigenen Worten zu beschreiben versucht, wie eine bestimmte Stimmung draußen in der Natur war, wie es sich angefühlt hat, woran es sie erinnert hat und warum gerade dieser Moment so magisch war? Wie oft beschreiben wir heute noch mit geschriebenen Worten, wie es uns geht, und wie oft greifen wir in die Trickkiste der 360 Gesichter- und Personen-Emojis (so viele sind es, Katzen, Elfen und den Weihnachtsmann eingerechnet)?
Es gibt einen letzten Grund für das Briefeschreiben, und der ist aktueller denn je: Holz ist bekanntlich gebundenes CO2. Und eine weltweite Aufforstung von Wäldern könnte zwei Drittel der vom Menschen verursachten CO2-Emissionen aufnehmen. Das ergab eine vor zwei Jahren veröffentlichte und seit dem viel diskutierte Studie der ETH Zürich. Was läge da näher, als möglichst viele Bäume extra für die Papier-Herstellung anzubauen, damit das Papier in Form von Briefen mindestens 30 Jahre in Umzugskisten lagert? Da kann es doch nur – nicht nur am Welttag Briefeschreibens – heißen: Schreibt mehr Briefe!