Naturalismus, mentale Verursachung, Willensfreiheit. Ein inspirierender Gastbeitrag von Prof. Dr. Timm Grams.
Mein humanistisch gebildeter Freund neckt mich, indem er hin und wieder lateinische Brocken fallen lässt – da reicht meine Oberrealschulbildung nicht hin. Geist kontra Materie, ein alter philosophischer Streit schimmert da durch. Unterschiedliche Denkrahmen eröffnen unterschiedliche Sichtweisen. Dass unsere Ansichten dennoch verblüffend oft konvergieren, schafft eine gewisse Treffsicherheit im Urteil.
Ignorabimus?
Bei Gelegenheit höre oder lese ich von ihm das Zitat „Ignoramus et ignorabimus“. Ich schlage nach und erfahre, was das heißt: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen.“ Dieser Ausspruch ist der Gipfelpunkt eines Vortrags eines gewissen Emil du Bois-Reymond von vor knapp eineinhalb Jahrhunderten. So erfahre ich von diesem großen Physiologen und Philosophen, der die elektrische Natur der Nervensignale aufdeckte und sie dadurch der Messung zugänglich machte.
Du Bois-Reymond formulierte damals, was er acht Jahre später in einer Reihe von sieben Welträtseln als das fünfte benannte: Das Entstehen der einfachen Sinnesempfindungen. Er schreibt (du Bois-Reymond, 1982, S. 35 ff.): „Ich fühle Schmerz, fühle Lust, schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot […] Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff- Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewusstsein entstehen könne.“
Du Bois-Reymond sieht hier Grenzen der Naturerkenntnis und er beschließt seinen Vortrag mit dem markanten „Ignorabimus!“
So unmittelbar und unverfälscht uns der rote Hut, das zustimmende Nicken, die Skyline von Frankfurt, die pochenden Töne der Fünften Sinfonie Beethovens erscheinen, für mich spitzt sich alles auf die Frage zu, ob mein Nachbar die Farbe Rot genauso empfindet wie ich, oder ob sich sein Erleben derselben Situation von dem meinen unterscheidet.
Weshalb man sich heute scheut, hinter du Bois-Reymonds Ignorabimus ein Ausrufezeichen zu setzen und ein Fragezeichen vorzieht, liegt auch daran, dass man immer besser erfasst, wie die Erregungsmuster im Gehirn mit den vorgefundenen Situationen zusammenhängen. Dieses wachsende Wissen scheint mir aber eher eine Seitwärtsbewegung zu sein. Es sagt uns nach wie vor nichts über das Wesen des Erlebens. Die geistigen Vorgänge sind aus ihren materiellen Bedingungen nicht zu begreifen. Das Bewusstsein bleibt rätselhaft.
Für du Bois-Reymond ist unserer Naturerkenntnis eine harte Schranke gesetzt. Das verdeutlicht er mit diesem Bild (1882, S, 38): Selbst auf der höchsten denkbaren Stufe unseres eigenen Naturerkennens gleichen unsere „Anstrengungen, über diese Schranke sich fortzuheben, einem nach dem Monde trachtenden Luftschiffer“.
Der Luftschiffer hat wenigstens den Mond vor Augen. Peter Bieri meint, dass wir nicht einmal den Sehnsuchtsort kennen (1992, S. 56): „Für das Rätsel des Bewusstseins gilt etwas, was für sonstige Rätsel nicht gilt: Wir haben keine Vorstellung davon, was als Lösung, als Verstehen zählen würde.“
Sackgassen
Jegliche Metaphysik sorgt für eine Einschränkung des Denkens. Wer seinen Denkrahmen mutwillig einengt, kommt der Lösung des Welträtsels nicht näher. Einen solchermaßen verfehlten Versuch zur Lösung des Welträtsels unternimmt der Naturalist. Er scheitert schon auf der Ebene der Logik; Erfahrungen und Fakten sind für den Nachweis seines Missgeschicks nicht vonnöten.
Der Naturalist baut sein Wissen auf die metaphysischen Annahmen, dass es nur eine Welt gebe, dass diese unerschaffen sei und von Gesetzmäßigkeiten regiert. Vor allem soll diese Welt – die Realität – „außerhalb unseres Denkens“ angesiedelt sein (Mahner, 2018, S. 46); sie ist folglich „in ihrer Existenz und ihren Eigenschaften unabhängig von unserem Bewusstsein“ (Vollmer, 2013, S. 22).
Mir widerstrebt zu erklären, dass das nicht zusammenpasst. Es ist zu offensichtlich. Wenn es nur eine Welt gibt, die es zu erkennen gilt, wo finden die Gedanken über diese Welt dann ihren Platz? In der Welt kann ihr Platz nicht sein, denn die Welt soll ja unabhängig vom Bewusstsein und den darin aufgehobenen Gedanken existieren. Irgendwo anders ist auch kein Platz, da es ja nur diese eine Welt gibt. Daraus folgt Gedankenlosigkeit. Der Begriff vom „Bewusstsein“ ist damit hinfällig. Ohne Gedanken aber gibt es keine Philosophie. Der Naturalismus löscht sich selbst aus. Komisch, dass es diese Naturalisten gibt: Philosophen ohne Philosophie.
Da ich schon einmal bei meiner Lieblingsbeschäftigung bin, beim Zerpflücken des Naturalismus, komme ich auf ein weiteres Welträtsel zu sprechen, dessen Existenz der Naturalist schichtweg abstreitet, anstatt es zu lösen.
Das siebente Welträtsel betrifft die Frage nach der Willensfreiheit (du Bois-Reymond, 1882, S. 84). Der Naturalist hat auch hier eine einfache Lösung: Es gibt sie gar nicht, diese Willensfreiheit. Schmidt-Salomon schreibt: Das Konzept der Willensfreiheit sei die „Unterstellung, dass eine Person sich unter exakt denselben Bedingungen anders hätte entscheiden können, als sie sich de facto entschieden hat“ (S. 102). Er meint, dass identische Ursachen notwendigerweise identische Folgen haben.
Das mag wohl sein. Jedoch lässt sich keine Versuchsanordnung denken, mit der die Entscheidung einer Person durch Herstellen identischen Bedingungen überprüft werden könnte. Es müsste schon dieselbe Person sein. Aber nach dem ersten Durchlauf ist deren mentale Ausstattung bereits verändert, so dass sie für den folgenden Prüflauf nicht infrage kommen kann. Das Popper-Kriterium ist unerbittlich: Die Aussage des Naturalisten ist metaphysisch, unwissenschaftlich, Glaubenssache.
Für beide Welträtsel läuft die Lösung des Naturalisten auf Leugnung hinaus: Bewusstsein gibt es nicht, genauso wenig die Willensfreiheit. Das verstößt so eklatant gegen den gesunden Menschenverstand, dass dieser dem Naturalisten nicht folgen mag. Dass sich die Naturalisten rettungslos verheddern, wenn es um das Geistige geht, war in diesem Weblogbuch schon mehrfach Thema, unter anderem im Artikel Der Spiegel der Natur.
Dazu passt eine grundsätzliche Überlegung des Peter Bieri. Von ihm ist dieses Trilemma:
- Mentale Phänomene sind nichtphysikalische Phänomene.
- Mentale Phänomene sind im Bereich physikalischer Phänomene kausal wirksam.
- Der Bereich physikalischer Phänomene ist kausal geschlossen.
Jede dieser Aussagen scheint für sich gesehen vernünftig zu sein. Pech ist nur, dass sie nicht allesamt gültig sein können: 1&2 schließt 3 aus; 1&3 schließt 2 aus und 2&3 schließt 1 aus.
Der Naturaliste lehnt 2 ab; also bleiben 1 und 3. Da er nur eine Welt anerkennt, gibt es keine nichtphysikalischen Phänomene. Folglich kann es keine mentalen Phänomene geben. Die Aussage 1 wird damit bedeutungsleer. Das zeigt erneut: Bewusstsein und Willensfreiheit gibt es für den Naturalisten nicht; es handelt sich bestenfalls um Illusionen, die der Körper für uns bereithält (Schmidt-Salomon, 2006, S. 12). Damit lockt uns der Naturalist in eine Denkschleife: Eine Illusion, die niemand wahrnimmt, ist keine. Wir fragen nach dem Adressaten der Illusion und landen wieder beim Anfang unserer Suche, bei der Frage nach dem Wesen des Bewusstseins. So werden wir Opfer einer Wortakrobatik ohne tieferen Sinn.
Seitwärtsbewegung
Unter den Fesseln der Metaphysik bekommen wir für die Welträtsel bestenfalls Scheinlösungen. Machen wir uns davon frei. Die Wissenschaft kennt solche Beschränkungen nicht. Einzig die Widerspruchsfreiheit und die Übereinstimmung mit den Fakten stecken den Denkrahmen ab. Es gibt, so scheint es mir, ziemlich viele Wissenschaftler, die sich mit dem Welträtsel abmühen. Ich will hier nur auf zwei von ihnen zu sprechen kommen: Wolf Singer und Roger Penrose.
Das Nachdenken des Menschen über sein Nachdenken hat so seine Schwierigkeiten. Um die Verwirrung in Grenzen zu halten, habe ich die wichtigsten Begriffe in einer Tabelle gruppiert. Die linke Spalte bringt die Grobeinteilung zwischen Außenwelt und Innenwelt: Von der ersteren haben wir nur die „Bilder im Kopf“, die Erscheinungen. Sie bilden die Innenwelt. (Florey, 1997; Grams, 2020, S. 248ff.)
Die rechte Spalte beinhaltet den Weltausschnitt, der für das Studium des Bewusstseins relevant ist. Auch hier betrifft der obere, dunkel hinterlegte Teil die nicht direkt erkennbare Außenwelt und der untere die Innenwelt.
(Ich rechtfertige meinen Sprachgebrauch, „Diesseits“ und „Jenseits“ betreffend, damit, dass es von der unfasslichen Realität zu Gott nur ein kleiner gedanklicher Schritt ist. Die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits ist demgegenüber riesig.)
Lassen wir Immanuel Kant zu Wort kommen. Er schreibt in seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“ (2011, „Anhang. Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“, S. 283):„Wenn wir aber auch von Dingen an sich selbst etwas durch den reinen Verstand synthetisch sagen könnten (welches gleichwohl unmöglich ist), so würde dieses doch gar nicht auf Erscheinungen, welche nicht Dinge an sich selbst vorstellen, gezogen werden können. Ich werde also in diesem letzteren Falle in der transscendentalen Überlegung meine Begriffe jederzeit nur unter den Bedingungen der Sinnlichkeit vergleichen müssen, und so werden Raum und Zeit nicht Bestimmungen der Dinge an sich, sondern der Erscheinungen sein: was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.“
Der weiße Pfeil spielt auf diesen Gedanken Kants an: Da wir nur die Erscheinungen erfahren, und nicht „die Dinge an sich“, gruppieren wir die vermeintlichen Dinge der Außenwelt nach Maßgabe der Erscheinungen. Wir „denken“ also in Pfeilrichtung.
Die Ursache-Wirkungsrichtung ist aber genau entgegengesetzt. Die Wissenschaft hat bei der Aufklärung dieser Kausalbeziehungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts große Fortschritte gemacht. Die elektrischen Nervenimpulse infolge eines Umweltreizes lassen sich messen. Die ursächliche Abhängigkeit der Nervenimpulse von den Umweltreizen ist heutzutage kein großes Geheimnis mehr. Der sensorischen Input sorgt für spezifische Aktivitätsmuster der Nerven. Das liefert die gehirninternen Repräsentationen des Inputs.
Objekte der Umwelt werden nun aber nicht unmittelbar in ihrer Ganzheit erfasst. Das Gehirn ist arbeitsteilig organisiert. Ein vorüberfahrendes Taxi erregt die Nervenzellen für die Erfassung von Farbe, von Kontur und von Orientierung und Bewegung usw. Das geschieht in getrennten Bereichen des Gehirns. Wie aus diesen Teilrepräsentationen die Repräsentation des Objekts wird, ist eines der großen Rätsel der Neurowissenschaften (Ramachandran, Blakeslee, 1998, S. 80).
Auch wenn dieses Rätsel dereinst zur Zufriedenheit aller gelöst sein wird, fehlt doch immer noch der entscheidende Schritt. Genaugenommen ist man dadurch dem Ziel nicht näher gekommen. Es läuft auf eine Seitwärtsbewegung hinaus, wie die des Luftschiffers, der dem Monde einfach nicht näher kommt.
Eine solche Seitwärtsbewegung liefern Andreas Engel, Peter König und Wolf Singer (1993). Sie schreiben: „Die richtige Zuordnung verlangt nach einem Mechanismus der in der Vielzahl aktivierter Zellen selektiv diejenigen kennzeichnet, die auf ein und dasselbe Objekt antworten.“
Als Bindemittel sehen sie das oszillatorische Feuern der Nervenzellen. Synchronisiertes Feuern hebt die Zusammengehörigen von den übrigen ab – so lautet die Hypothese. Die Teilrepräsentationen können sich so zu einem Gesamtbild fügen. Das aber hebt die Repräsentation nicht über die physikalische und physiologische Ebene hinaus. Das Geschehen bleibt im Jenseits verortet.
Neue Ideen gefragt
Seit der Zeit des du Bois-Reymond hat sich in der Wissenschaft viel getan. Meilensteine sind die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Einem Verständnis des Bewusstseins sind wir Menschen dennoch nicht viel näher gekommen. Wir sind immer noch „Luftschiffer, die nach dem Monde trachten“.
Der Nobelpreisträger dieses Jahres, Roger Penrose, schreibt im Vorwort zu „The Emperor’s New Mind“, dass die heutige Physik dem Phänomen des Bewusstseins nicht gerecht wird (2016, S. xv): “The conscious aspects of our minds are not explicable in computational terms and moreover that conscious minds can find no home within our present day scientific world view.” Und weiter (S. 580): „One can argue that a universe governed by laws that do not allow consciousness is no universe at all. I would even say that all the mathematical descriptions of a universe that have been given so far must fail this criterion. It is only the phenomenon of consciousness that can conjure a putative ‘theoretical’ universe into actual existence.”
Solange die von uns erkannten Gesetzmäßigkeiten der Welt ein bewusstes Denken nicht zulassen, kann auch das Universum nicht gedacht werden. Es existiert demnach für uns nicht. Die heutige Wissenschaft ist offenbar nicht reichhaltig genug, um das Geistige zu verstehen.
Timm Grams studierte bis 1972 Elektrotechnik an der TH Darmstadt (Dipl. – Ing.) und promovierte 1975 an der Universität Ulm (Dr. rer. nat). Simulation, Zuverlässigkeitstechnik und Prozessdatenübertragung waren seine Arbeitsschwerpunkte in der Industrie. Seit 1983 ist er Professor an der Hochschule Fulda mit den Lehrgebieten Nachrichtentechnik, Programmkonstruktion, Simulation und Problemlösen. Denkfallen und Regeln zu deren Vermeidung sind seit vierzig Jahren seine Leidenschaft. Darüber schreibt er auch in seinem Blog Hoppla!, wo dieser Beitrag bereits vorher erschienen ist. Die Titelabbildung stammt von qimono auf Pixabay.