Wadi Wasit ist eine Quelle des Vergessens. Wir erreichen sie an einem glühend heißen Augusttag. Die Hälfte eines mehr als 1200 Kilometer langen Fußmarschs von Dschidda nach Jordanien, vielleicht des ersten, der seit Generationen unternommen wurde, liegt hinter uns. Der Hedschas - eine Wegkreuzung, an der Arabien, Afrika und Asien aufeinandertreffen - gehört zu den geschichtenreichsten Ecken der antiken Welt. Doch ich kenne keine Gegend, die gedächtnisloser ist als diese.
Der lange Weg in die Welt
60.000 Jahre hat der moderne Mensch gebraucht, um von Afrika aus die Erde zu besiedeln. Der National-Geographic-Reporter Paul Salopek folgt dieser Spur. Von Äthiopien bis nach Feuerland. 34.000 Kilometer weit. Sieben Jahre lang.
Mehr über das Projekt "Out of Eden Walk" in seinem Blog.
Eine kleine, bodenlose Quelle im Hedschas: eine weiße Porzellantasse. Darin dunkler, starker Kaffee. Drei wortgewandte Frauen füllen die Tasse in einem fort wieder auf. SaudiArabien, sagen sie, sei ein vielfältiges menschliches Mosaik. Mit unterschiedlichen Regionen und Kulturen. Die Frauen betonen außerdem, keine Region in SaudiArabien sei heute so unabhängig und stolz wie das Gebiet, das seit dem 7. Jahrhundert die heiligen Städte Mekka und Medina bewahre - das untergegangene Königreich Hedschas.
Einerseits eine heilige Landschaft, mit heiligen Städten, die für Nichtgläubige lange Zeit verboten waren. Andererseits die liberalste Region SaudiArabiens: ein Schmelztiegel der Migration, bunt schillernd von Einflüssen aus Asien, Afrika, der Levante und hundert anderen Orten - das Kalifornien SaudiArabiens.
"Wir haben in 50 Jahren so viel verloren"
Salma Alireza, eine traditionelle Stickerin, sagt: "Früher trugen Frauen hier in der Öffentlichkeit leuchtend rote und blaue Kleider. Das war die Tradition. Aber nach 1960 änderte sich das Leben. Ölgeld strömte ins Land. Die Modernisierung ging zu schnell. Wir haben in 50 Jahren so viel verloren!"
Und es stimmt. Die Frauen sitzen unverschleiert am Tisch. Sie tragen Blusen und Hosen. Das Haus, in dem wir uns unterhalten, ist elegant gebaut und schick, minimalistisch, global eingerichtet. Und draußen, an den Straßen von Dschidda, gibt es Kunstgalerien, Cafés, Promenaden, Museen - es ist der kulturelle Knotenpunkt SaudiArabiens.
Nomaden des Hedschas leben in Städten
Fast 500 Kilometer nördlich von Dschidda machen wir Halt. Über eine Ebene aus glitzerndem Salz nähert sich ein Wagen. Ein Toyota Hilux, das Eisenkamel des modernen Beduinen. Wir sind ein Ereignis. Die berühmten Nomaden des Hedschas leben inzwischen in Städten und Vororten, Büros, Armeebaracken. Doch ein paar Hartgesottene bleiben.
Einer davon steigt aus dem Toyota, ein alter Mann im fleckigen grauen Thawb, dem klassischen Gewand saudischer Männer. Er bringt uns ein Geschenk. "Das ist bei uns so Sitte", sagt er und beschreibt mit seiner schwieligen Hand einen weiten Bogen über die Wüste.
Dem Erdboden gleichgemacht
Einst aus Not gebaut, sind die Quellen im alten Hedschas zu Orten der Schönheit und kontemplativen Betrachtung verblasst. Dass der Hedschas in der nichtmuslimischen Welt noch immer romantisch verklärt wird, liegt an der Karawane ausländischer Chronisten.
Sie sahen aus glänzenden weißen Korallenblöcken erbaute Städte am Roten Meer, deren Rundbogentüren und Fensterläden meergrün und nomadenblau leuchteten. Sie galoppierten auf Kamelen von einer befestigten Oase zur anderen, mit wildhaarigen Männern, den Beduinen, die sie auf deren raue Art bewunderten. Dieser literarische Hedschas, wenn er denn je existierte, ist längst unter amerikanischen Vororten und Einkaufsmeilen verschwunden.
"Wir haben für materiellen Wohlstand unsere Vergangenheit hergegeben", klagt Ibrahim, ein Wasseringenieur im Hafen von alWadschh. "Das 200 Jahre alte Korallensteinhaus meines Großvaters? Dem Erdboden gleichgemacht. Der Leuchtturm unserer Stadt, der aus 20 Kilometer Entfernung zu sehen war? Schutt. Niemanden kümmert es. Es hat keinen ökonomischen Wert."
Vom Zelt zu Twitter
Bemerkenswert ist, dass die lautesten Klagen über das Verschwinden des Erbes von Muslimen außerhalb SaudiArabiens kommen. "Es ist schwer, junge Saudis zur Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte zu bewegen", sagt Malak Mohammed Mahmoud Baissa, der Bürgermeister von Dschiddas verbliebener Altstadt. Halsbrecherischer ökonomischer Wandel. Modernisierung. Vom Zelt zu Twitter. Zu gläsernen Wolkenkratzern in kaum drei Generationen. So muss es in Europa während der Industriellen Revolution zugegangen sein.
Nach sechs Monaten gemeinsamen Wanderns verabschiede ich mich von meinen Begleitern Ali und Awad. Ich überquere die Grenze von SaudiArabien nach Jordanien. Ich trage nur wenig bei mir. Eine Schultertasche mit Notizheften, von Gummibändern zusammengehalten. 1130 Kilometer Wörter.
Übernommen aus:
National Geographic, Heft Juli 2014, ab sofort für 5 Euro am Kiosk. Dort finden Sie die ungekürzte Reportage. Weitere Infos unter www.nationalgeographic.de/salopek
Ich erreiche einen modernen Touristenort. Niemand schenkt mir Beachtung. Ich werde gewahr, dass hier auch Frauen Auto fahren. Ich gehe in einen Laden und kaufe mir eine Flasche gefiltertes Wasser: eine kleine Plastikquelle, ein von Menschen gemachtes Erzeugnis des Hauptstrangs der Geschichte.