HERNE. Es brodelt in den Kollegien. „Mehrjährige Versäumnisse, Fehleinschätzungen, Verkennungen der Lagen, unzulängliche oder falsche Maßnahmen und teilweise (bewusste?) Fehlinformationen der Öffentlichkeit sorgen für Vertrauensverlust, Chaos und Unsicherheiten an den Schulen vor Ort“, so heißt es in einer Erklärung der GEW im westfälischen Herne zur Politik von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP), die beispielhaft für die explosive Stimmung vielerorts stehen dürfte. Das Besondere: Die Lehrer-Gewerkschafter fordern jetzt sogar Gebauers Rücktritt – ein beispielloser Schritt.
In einem insgesamt achtseitigen Dossier listet die GEW Herne den Stand der Forschung und die Maßnahmen des Schulministeriums (Ministerium für Schule und Bildung, MSB) unter Gebauer auf. „Die vom MSB zu den jeweiligen Zeitpunkten getroffenen Coronamaßnahmen während der letzten 2 Jahre waren in Bezug auf den Infektionsschutz durchgehend und immer wieder dramatisch unzureichend und mindestens fatal zu spät“, so heißt es. „Bereits seit Oktober 2020 lagen danach mehrere überregionale Untersuchungen vor, die belegen, dass Schulen zu allen Zeiten der Pandemie Teil des Infektionsgeschehens waren, während die Ministerin die Schulen wieder und wieder als ‚sichere Orte‘ einstufte.“
„Bereits seit Dezember 2020 lagen Untersuchungen zur Wirksamkeit von MNS im öffentlichen Raum vor, während die Ministerin nicht nur die Maskenpflicht an allen Schulen abschaffte, sondern einzelnen Schulen und Kommunen untersagte, eigenständig MNS- Schutz nach Lage vor Ort und nach dem Willen aller Beteiligten zu beschließen. Bereits im Dezember 2020 lagen wissenschaftliche Untersuchungen vor, die Superspreader- Geschehnisse in Schulen dokumentierten, diese Daten wurden ignoriert. Entgegen den eigentlichen Untersuchungsergebnissen wurde im Gegenteil behauptet, die Infektionsgeschehnisse hätten außerhalb der Schulen stattgefunden und die KMK bezog sich mehrfach in ihren Anordnungsbegründungen auf diese nicht korrekt rezipierten Grundlagen.“
„Schulen waren und sind Orte, die die Inzidenzzahlen in einem dramatisch hohen Faktor nach oben trieben und treiben“
Zuletzt, so führen die Autoren aus, hätten die Anweisungen des MSB zu Beginn des Unterrichts nach den Weihnachtsferien 2021/22 und die Situation vor allem im ÖPNV am ersten Schultag und der erste faktisch ungetestete Schultag der Grundschüler*innen dazu geführt, dass die Fallzahlen unter Kindern und Jugendlichen mit Omikron in Schulen explosionsartig nach oben gehen mussten. In Bezug auf die neu vom Land beschafften Schnelltests für weiterführende Schulen heißt es, „dass diese mit einer Sensitivität von nur noch 58 bzw. 62% einen deutlich schlechtere Erkennung von Infektionen aufweisen als der bisherige Test mit einer Sensitivität von 76%“.
Der nächste Tiefpunkt geführt: das Test-Chaos. „Heute (am 25. Januar, d. Red.) hat das für Herne zuständige Labor – wie zahlreiche weitere Labore in ganz NRW – den Schulen mitgeteilt, dass aufgrund der hohen Zahl an Positivtestungen der Grund- und Förderschulpools nicht mehr weiter einzeln nachgetestet werden kann – die Zahl der positiven Pools liege bei über 20%. Dies bedeutet, dass ab sofort den Grundschulen ca. einen Tag nach den genommenen Tests zwar noch bekanntgegeben werden wird, dass in einer Klasse ein oder mehrere Kinder infiziert sind, dann wird aber nicht mehr ermittelt, welches Kind oder welche Kinder dies sind.“
Die GEW habe davor gewarnt, dass das Zusammensitzen aller faktisch ungetesteten Grundschulkinder am 1. Tag nach den Weihnachtsferien die Omikronvariante in die Schulen eintragen würde und dass in der Folge zwangsläufig das Virus in die Grundschulen „einschlagen würde wie eine Axt in weiche Butter“. Genau dies sei geschehen. „Die Folgen in der kommenden Zeit werden sein, dass die Zahlen infizierter Kinder und Lehrer*innen und in der Folge auch die Inzidenzen in der Gesamtgesellschaft weiter explodieren werden. Für Schulen werden entweder v.a. bei kleinen Kindern sehr unsichere ‚Selbsttests‘ gemacht werden müssen oder es wird gar nicht mehr getestet werden können. Das jetzt bereits eingekehrte alltägliche dramatische Chaos wird sich noch ausweiten, vor allem wenn die Infektionszahlen bei Lehrer*innen ebenfalls weiter nach oben gehen werden. Es ist zu erwarten, dass die fatal falschen Maßgaben des MSB (…) dazu führen, dass Schulen doch komplett werden schließen müssen, dass die Präsenzpflicht in Schulen ausgesetzt werden wird müssen (und damit den Eltern diese Dilemma- Entscheidung überlassen) – oder dass schlicht in Präsenz weiter unterrichtet werden wird, egal, wie die Infektionslage ist.“
Insgesamt sieht die GEW Herne direkte Zusammenhänge zwischen massiv falschen oder unzureichenden Einschätzungen von Gebauer und direkten Folgen im Infektionsgeschehen. „Nicht waren und sind Schulen sichere Orte, wie die Ministerin immer wieder öffentlich angab, sie waren und sind Orte, die die Inzidenzzahlen in einem dramatisch hohen Faktor nach oben trieben und treiben. Da die Zahlen schwerster Erkrankungsverläufe und auch Todesfolgen in direkter Folge zur Anzahl an Infektionen stehen, sind die unzureichenden oben beschriebenen fatalen Einschätzungen und daraus folgenden Maßgaben für Schulen für einen Teil der Infektionen und schließlich auch für einen Teil der Opfer verantwortlich zu machen.“
Weiterer Punkt: Die schulische Grundausrichtung von Gebauers Wirken sei einseitig auf „Unterrichtsstoff und Prüfungen“ ausgelegt gewesen: „Während zu Beginn der Pandemie als Ziel vorwiegend das ‚Durchziehen‘ von Prüfungen Kern der MSB-Maßnahmen war und der Schutz auch der seelischen Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen so gut wie gar nicht im Fokus standen (ein überwältigender Teil der Anweisungen aus den ersten 28 Schulmails bezieht sich auf die Durchführung von Prüfungen und die Voraussetzungen dafür für die Abschlussklassen), berufen das MSB und die Ministerin sich jetzt bei der gesetzten Prämisse des Präsenzunterrichtes gerade auf das Argument der seelischen Gesundheit der Kinder – tatsächlich werden hierzu aber fatal unzulänglich Maßnahmen getroffen.“
Trauer, Fassungslosigkeit, Verzweiflung, Wut – und Zweifel an den Kompetenzen auf höchster Führungsebene
Großteile der Maßnahmen folgten der Überschrift „Aufholen nach Corona“ unter Titeln wie „jetzt schalten wir den Turbo ein“ – und fokussierten weiterhin auf fachliches Aufholen von Inhalten, während bei Notfallunterstützungen von traumatisierten Kindern und Jugendlichen oder bei Depressions-, Vereinsamungs-, Sucht-, Aggressions- oder anderweitigen Problemtendenzen Wartezeiten in Beratungsstellen und Kliniken von vielen Monaten bis zu über einem Jahr bestünden.
„Akuthilfe haben zuständige Kliniken – den Rückmeldungen aus den Kollegien nach – vollständig auf Selbstgefährdungslagen beschränkt. Selbst bei Fremdgefährdungslagen stehen aufgrund der unfassbaren Fülle an bedürftigen ‚Fällen‘ lange Wartezeiten an. Diesbezügliche Maßnahmen mit dem Fokus auf das, was Kinder und Jugendliche jetzt für ihr Wohlbefinden, ihre Identitätsbildung, ihre menschliche Entwicklung, die Entwicklung von Werten und Normen bräuchten, stehen in den Anweisungen des MSBs für Schulen weiterhin nicht oder kaum, in jedem Fall aber völlig unzureichend auf der Agenda.“
Die GEW Herne erreichten immer wieder Rückmeldungen aus den Kollegien sowie von Eltern und Schülerinnen und Schülern, „die zeigen, wie groß die Trauer, die Fassungslosigkeit, die Verzweiflung, die Wut oder der Zweifel an den Kompetenzen auf höchster Führungsebene mittlerweile sind. Für die GEW Herne trägt dafür Frau Ministerin Gebauer wesentlich die Verantwortung.“ Die Schulministerin solle zurücktreten – „im tiefen und besten Interesse aller von Schule Betroffenen“. Denn: „Das Vertrauen in sie und auf zukünftig von ihr zu verantwortende sinnvolle Entscheidungen ist bei der überwiegenden Zahl der Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen nach unserer Wahrnehmung nicht (mehr) vorhanden.“ News4teachers / mit Material der dpa