Stilsicher und in Farbe: Ältere Frauen wollen vermehrt wieder sichtbar sein. Fotos: Advanced Style
Als mein Vater starb, trug meine Mutter für ein Jahr schwarze Strümpfe. Das war ein ungewohnter Anblick, da ich sie vorher noch nie so gesehen hatte. Im Gegenteil, sie war alles andere als eine graue Maus, liebte sie doch kräftige Farben. Himmelblau, Flaschengrün und Bordeaux waren ihre Lieblingstöne. Und selbst mit 80 war eines ihrer Lieblings-Outfits ein goldgelbes Kaschmir-Twinset. Diese schwarzen Strümpfe lösten ein ungutes Gefühl in mir aus. Ich hatte irgendwie Angst, dass sie bedeuteten, dass meine Mutter mit einem Teil ihres Lebens abgeschlossen hatte.
Wenn ich heute die Outfits älterer Frauen anschaue, frage ich mich häufig: Warum schluckt eigentlich das schreckliche Beige alle bunten Farben? Und warum ist das Lieblings-Outfit so vieler ab 60 ein sandfarbener Regenmantel? (Betrifft übrigens auch die Männer.) Gibt es eigentlich eine Stilpolizei, die fordert, dass man ab einem gewissen Alter in der optischen Versenkung verschwinden sollte? Oder hat dieses ganze «Verschwindibus» damit zu tun, dass ältere Frauen finden, sie müssten sich unsichtbar machen, weil sie sowieso keine Rolle mehr spielen?
Natürlich war es gesellschaftlich gesehen für eine lange Zeit so, dass es ein ungeschriebenes Gesetz gab, was eine Frau in welchen Lebensabschnitten noch tragen durfte. Kurze Rücke über 40? Pfui! Selbst wenn die Trägerin noch über einwandfreie Beine verfügte, das schickte sich einfach nicht. Mit einem Kostüm, womöglich mit Seidenbluse und Perlenkette kombiniert, lag die Frau nie schief. Hauptsache nicht auffallen, lautete die Devise. Und wenn Jeans und Sneakers, dann bitte nur zu Hause, denn «Berufsjugendliche» wirkten irgendwie verdächtig.
Die Skinny Jeans einmotten?
Doch zum Glück gibt es reife Frauen, die ihren persönlichen Stil und Geschmack über gesellschaftliche Normen stellen. Eine von ihnen ist sicher die Amerikanerin Iris Apfel, die sich mit 95 Jahren so kleidet, dass sie 30-Jährige in den Schatten stellt. Aber es geht ja nicht darum, einen möglichst exzentrischen Look zu tragen, sondern darum, sich selber zu bleiben. Wenn die 70-jährige Charlotte Rampling einen gelben Wildledermantel trägt, wirkt sie ziemlich lässig. Und Schauspielerin Helen Mirren präsentiert auch noch mit 71 ihr erotisches Décolleté. Doch es müssen ja keine Prominenten sein, der Blick in den eigenen Kleiderschrank genügt. Warum sollte man die heiss geliebten Skinny Jeans mit 60 einmotten? Und eine Parka sieht nicht nur bei jungen Frauen gut aus, sondern auch an einer sportlichen 70-Jährigen.
Als die «New York Times» kürzlich einen Artikel mit dem Titel «Don’t Dress Your Age» publizierte, in dem die Autorin Julia Baird die Frauen aufforderte, sich nicht wie Schafe in einer Herde zu verhalten, sondern sich darüber zu foutieren, was man in einem gewissen Alter tragen sollte, solidarisierten sich in den sozialen Netzwerken Hunderte von 40+-Frauen. Sie posteten Bilder von sich in Sweat- und T-Shirts mit dem Aufdruck: «Old Is the New Black». Damit wollten sie betonen: Wir kleiden uns nicht altersgemäss, sondern nach unserem eigenen Geschmack und Stil.
Sichtbar ab 40
Alt ist das neue Schwarz.
Autorin Julia Baird war über diese Reaktionen nicht erstaunt. «Viele Frauen sind müde, sich konform oder ‹normal› zu kleiden, sobald sie die 40 erreicht haben. Sie lehnen es ab, dass man ihnen sagt, was sie zu tragen und wie sie sich zu verhalten haben. Sie machen Selfies mit Tiaras, Pailletten, Leopardenmuster, High Heels, und sie sehen unglaublich fröhlich und selbstzufrieden aus.» Das ist zweifellos ein weiterer Beweis, wie sehr das Internet die Mode demokratisiert. Es erlaubt allen reifen Frauen, aus der Unsichtbarkeit herauszutreten. Eine Unsichtbarkeit, die die Modeindustrie mit ihrer Obsession für junge Models und Prominente noch immer unterstützt.
Als meine Mutter nach ihrem Trauerjahr ihre hellen Nylons wieder anzog, da wusste ich, dass dies ein Schritt zurück in ein aktives und selbstbestimmtes Leben war.