Das Herausschälen aus den Wohlfühlklamotten, betont die britische Psychologin Zoe Aston, ist auch eine mentale Zäsur. So wichtig wie der textile Trost bequemer Lieblingsstücke während der Pandemie war, so unverzichtbar ist nun, wo Impfkampagnen die Bedrohung eindämmen und die Alltagsnormalität zurückkehrt, das bewusste Ablegen der Mode-Krücken. Möglichst nachhaltig natürlich, keine Wegwerf-Orgien im Hausmüll. Mit jedem verabschiedeten Stück, sagt die Fachfrau für mentale Krisen, entsteht gleichzeitig Platz für neue (Stil-)Abenteuer geschaffen.
Eine Werbeaktion, die Astons Ratschläge symbolhaft und reichlich skurril umsetzt, hat übrigens die offizielle Tourismus-Website von Island losgetreten. Unter dem Motto „Looks like you need an adventure“ kann eine begrenzte Zahl von Besuchern der Hauptstadt Reykjavik in einem Pop-up-Store den ganzen Juli über mitgebrachte Jogginghosen in handgenähte Wanderschuhe samt Transportbeutel verwandeln lassen.
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Einzige Bedingung: Die Vorlage eines Flugtickets mit Ankunftsdatum nach dem 24. Juni. Für die Umsetzung des originellen Upcycling-Projektes arbeitet „Visit Iceland“ mit der Schuhmarke Will’s Vegan und der isländischen Designerin Yr Thrastardottir zusammen. Wer seinen Sommerurlaub schon verplant hat oder Einreisebestimmungen scheut, kann im Internet virtuell einen Blick auf die Sweatpants Boots werfen.
Capital: Zoe Aston, welches Kleidungsstück haben Sie zuletzt ausgemistet und warum?
ZOES ASTON: Ich bin ein großer Fan von Recycling, Upcycling und Spenden an gemeinnützige Organisationen. Außerdem tausche ich regelmäßig Teile, die ich nicht mehr trage, mit Familie und Freunden. Auf der Aussortieren-Liste landen bei mir grundsätzlich Kleidungsstücke, an denen Erinnerungen haften, die ich loslassen möchte. Außerdem alles, was ich lange nicht mehr getragen habe, das aber vielleicht jemandem anderen noch Freude bringt. Ansonsten trage ich alles, bis es auseinanderfällt. Zuletzt habe ich mich von einem blau-weißen Oberteil getrennt, bei dessen Anblick ich immer an einen früheren Job denken musste. Seit ich dort nicht mehr arbeite, hatte ich es kein einziges Mal angezogen. Jemand mit mehr Talent für Handarbeiten hätte aus dem Material vermutlich etwas tolles Neues gemacht, aber da mir diese Begabung fehlt, hängt es jetzt in einem unabhängigen Charity-Laden gleich bei mir um die Ecke.
Was haben Sie sich zuletzt zum Anziehen gekauft?
Als sich die Lage in diesem Frühjahr allmählich entspannte, wollte ich mir unbedingt sommerliche Outfits gönnen. Die Vorstellung, darin ohne allzu große Restriktionen die Welt neu zu entdecken, vielleicht sogar eine Reise zu machen, hat mich richtig berauscht. Ein Kauf war ein hellgrüner Jumpsuit, den ich sicherlich sehr oft tragen werde, weil er wunderbar vielseitig zu kombinieren ist. Zugleich symbolisiert seine Farbe eine Veränderung in meiner sonst eher schwarzen Garderobe und damit auch, dass ich im Lockdown gelernt habe, mich in meiner Haut noch wohler zu fühlen und mutiger zu werden.
Wie sehr hängen wir überhaupt noch an unserer Garderobe, in einer Welt vollgestopft mit Fast Fashion?
Weniger als früher, als eher nach Bedarf gefertigt und für bestimmte Anlässe gekauft wurde. Und das finde ich ziemlich traurig. Dennoch hängen vermutlich bei jedem von uns Teile im Schrank, mit denen wir Erinnerungen verwoben haben und sie deshalb Saison für Saison weiter aufheben. Wie die Jogginghosen aus den Lockdown-Phasen der Pandemie. In ihnen steckt jetzt das ganze Gefühlschaos der vergangenen Monate: die Verunsicherung, das hektische Improvisieren, die Trauer – und die Notwendigkeit zu lernen, in der Selbst-Isolation andere um Hilfe zu bitten. Ich hoffe sehr, dass wir auf dem Weg zu größerer Nachhaltigkeit wieder mehr in unsere Kleidung investieren – finanziell wie auch emotional – und um Fast Fashion einen Bogen machen. Stattdessen könnten wir versuchen, Mode, mit der wir „durch“ sind, als Antrieb für neue Abenteuer zu nutzen. Deshalb gefällt mir die Aktion mit den „Sweatpant Boots“ auch so gut.
Was verbindet uns auf der psychischen Ebene mit dem, was wir am Leib tragen?
Mit unserer Garderobe teilen wir der Welt mit, wer wir sind, in welcher Lebensphase wir uns gerade befinden und wie wir uns im jeweiligen Moment fühlen. Mode kann auch zur Maske werden, die Verletzlichkeit kaschiert: beim Vorstellungsgespräch, beim ersten Date, bei einer Familienfeier. Wir sind nervös, besorgt oder gar ängstlich und kleiden uns zum Schutz vor diesen Gefühlen besonders adäquat und sorgfältig. Das signalisiert unserem Unterbewusstsein: „Wir machen gute Miene zum bösen Spiel und schaffen das.“
Welche besondere Rolle hat Mode in der Zeit der Pandemie gespielt?
Für viele Menschen war es zunächst einmal ein großer Verlust, dass sie ihre Beziehung zu sich und anderen nicht mehr wie sonst durch die vielen alltäglichen kleinen Dinge und fast automatischen Verhaltensweisen definieren konnten. Unsere Kleidung ist eine Art, auf die wir das tun, denekn wir nur an den berühmten ersten Eindruck, der ganz wesentlich auf unserer visuellen Erscheinung basiert. Plötzlich sah niemand mehr unser (komplette) Outfit, blieb verborgen, wie professionell wir darin aussahen, wie attraktiv und cool. Das hat manchem Selbstbewusstsein einen gehörigen Dämpfer verpasst, und der Ersatz dafür musste plötzlich in inneren Werten gesucht werden. Klar, einige haben sich auch mit großem Aufwand für den Tag im Homeoffice in Schale geworfen. Für die meisten wurde Komfort jedoch rasch wichtiger, inmitten all der Unsicherheit und Monotonie.
Was ist denn besser: Herausputzen oder Hängenlassen?
Das hängt von der jeweiligen Person ab und woran sie gewöhnt ist, da gibt es kein falsch oder richtig. Jemand, der vor der Pandemie bereits im Homeoffice saß, musste seinen Joballtag kaum verändern und er oder sie zieht sich vielleicht weiterhin ganz bewusst etwas schicker an für Zoom- oder Teams-Gespräche. Das Büro-Outfit hilft beim Wechsel vom Küchentisch an den Arbeitsplatz nebenan. Für andere fiel durchs Homeoffice reichlich unnötiger Stress weg, was sich positiv auf ihre Stimmung und Produktivität ausgewirkt hat. Vielen fiel erst im Lockdown so richtig auf, wie ausgepowert und überarbeitet sie waren.
Wie darf man sich Ihren Dresscode vorstellen?
Ich gehöre definitiv zur Jogginghosen-Fraktion. Wobei ich mich für Therapie-Sitzungen, Vorträge und andere repräsentativere Aufgaben formeller angezogen habe. Das half mir, in die geforderte Rolle zu schlüpfen. Ansonsten habe ich wunderbar in meinen blauen Jogginghosen „gelebt“, die jetzt als Wanderschuhe in Reykjavik quasi wiedergeboren wurden.
Was macht man nun mit dem Lockdown-Look: Alles in den Kleidersack, was kein Lächeln mehr in die Mundwinkel zaubert – wie Marie Kondo empfiehlt – oder ein paar Teile als Erinnerung an Covid-19 behalten?
Ich bin ein großer Fan eines möglichst nachhaltigen Lebens, und gleichzeitig eine Befürworterin, sich regelmäßig von Dingen zu trennen, die uns weder nutzen noch erfreuen. Damit Platz für Veränderung entsteht. Was wir in den letzten 18 Monaten gemeinsam durchgemacht haben, ist psychologisch so einzigartig, dass garantiert jeder etwas Neues über sich und die Welt gelernt hat, das sich festzuhalten lohnt. Ich würde also sagen, als grobe Richtschnur: Behalten Sie alles, was Sie an Ihre Stärke erinnert, und die Fähigkeit, mit nahezu allem fertigzuwerden, was das Leben an Überraschungen und Tiefschlägen parat hält. Und dem Rest sagen Sie „goodbye“.
Wie kann Mode uns helfen, positiv in die Zukunft zu blicken und die Lust auf Abenteuer wiederzuentdecken?
Es grassiert in der Tat eine nicht zu unterschätzende „Re-Entry“-Angst, die Öffnungen sind schließlich nach so langer Zeit eine weitere radikale Veränderung. Da finde ich es wichtig, dass wir behutsam mit uns umgehen, eine allmähliche Re-Sozialisierung beginnen, im eigenen Tempo, um nicht die seelische Balance zu verlieren. Jeder hat sich durch bzw. in der Pandemie verändert, und die Mode ist eine großartige Möglichkeit, diese neuen Seiten an sich zu entdecken und auszudrücken. Sie hilft außerdem dabei, Teile unserer Identität wiederzufinden und zu integrieren, die wir – bewusst oder unbewusst – im Lockdown verloren oder vernachlässigt haben.
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