„Cuties“: Zwischen Gesellschaftskritik und pädophilen Absichten

Aktuell gibt es einen Film, der für heftige Kontroversen sorgt. Der französische Streifen „Cuties“ kritisiert die Hypersexualisierung der Gesellschaft, insbesondere aber die junger, heranwachsender Mädchen und wird von konservativen Kritikern als Kinderpornografie abgestempelt.

Ein Gesellschaftsbild widerzuspiegeln, es zu kritisieren, infrage zu stellen oder untragbare Missstände aufzuzeigen kann oft eine große Herausforderung sein. Vor allem, wenn man die Kunst als Kanal dafür wählt. Denn man muss immer damit rechnen, dass das eigene „Kunstwerk“ missverstanden oder missinterpretiert werden könnte. Explizite Szenen erscheinen da oft wie Faustschlag und das obwohl sie die Gesellschaft widerspiegeln, häufig zur Normalität gehören und daher eine gewisse Realität abbilden.

Das ist auch bei „Cuties„, im französischen Original „Mignonnes“ der Fall. Die französisch-senegalesische Regisseurin Maïmouna Doucouré erhält mittlerweile wegen ihres Coming-of-Age-Films sogar Morddrohungen. Aufgrund der Darstellung der jungen Mädchen und wegen zu expliziter Szenen sind sowohl die Regisseurin als auch die Streamingplattform Netflix, die den Film seit Anfang September in ihrer Mediathek zur Verfügung stellt, zur Zielscheibe für konservative Kritiker_innen geworden. Einige vermuten hinter dem Drama eine pädophile Absicht und eine sexuelle Zurschaustellung von Minderjährigen. Und zugegeben: Viele Szenen aus dem Film stoßen einem bitter auf. Aber wenn man sich den Streifen aufmerksam von Anfang bis Ende ansieht und versucht, die Zusammenhänge zu verstehen, dann sollte eigentlich feststehen: Doucouré übt Gesellschaftskritik.

Der Plot: Zwischen zwei Welten

Hauptprotagonistin ist 11-jährige Amy, kurz für Aminata. In „Cuties“ erlebt der/die Zuseher_in einige sehr aufwühlende und transformierende Wochen des Mädchens mit. Amy ist die Tochter einer Immigrantin aus dem Senegal. Zusammen mit ihrer Mutter und ihren zwei jüngeren Geschwistern lebt sie in einem sozial schwachen Viertel in einem Sozialbau am Rande von Paris. Die Familie ist sehr traditionell und streng gläubig. Die Mutter nimmt das Mädchen häufig mit zu Gebetskreisen, wo Amy eingetrichtert wird, dass Frauen still, sittlich und bescheiden zu sein haben, wohingegen die „Entblößten“ auf den französischen Straßen das Böse seien.

Amys Mutter versucht der Familie ein möglichst angenehmes Leben zu bieten, weswegen die Kinder viel alleine sind und die 11-Jährige häufig die Kinderbetreuung übernimmt. Die Existenz des Vaters wird angedeutet, doch gezeigt wird er im Laufe des Films nie. Er befindet sich im Senegal und bereitet sich auf die Hochzeit mit einer Zweitfrau vor, die nicht viel älter sein dürfte als Amy. Die anstehende Hochzeit wird zum emotionalen Ballast — sowohl für Mutter als auch Tochter. Man sieht sie in diesem Zusammenhang weinen. Sobald der Vater verheiratet ist, sollen er und dessen neue Zweitfrau ebenfalls im Haushalt in Paris leben. Ein Zimmer, das keines der Kinder betreten darf, wurde bereits für die beiden hübsch zurechtgemacht. In Amys Schrank hängt ein monströses, festliches Kleid, das sie zur Hochzeit tragen soll und das sie täglich daran erinnernt.

Eine Schlüsselfigur im Film ist auch eine alte Frau, die von allen nur „Tante“ genannt wird. Diese zwingt Amys Mutter in endlosen Telefonaten, Familienmitgliedern zu erzählen, wie sehr sie sich über die Zweitfrau ihres Mannes freue. Zudem terrorisiert sie die Elfjährige mit patriarchalen Strukturen und religiösen Dogmen, wie eine Frau zu sein habe. Als Aminata zum ersten Mal ihre Periode bekommt, trichtert ihr die Tante ein, die Funktion einer Frau sei es, zu heiraten, dem Mann hörig zu sein und sich zu reproduzieren.

Die Transformation

Dem harten Gegenkontrast begegnet Amy am Schulhof, als sie vier Mitschülerinnen tanzen sieht. Sie scheint fasziniert von den gleichaltrigen Mädchen und beschließt, sich ihnen und ihrer Tanzgruppe anzuschließen. Dass eines der Mädchen, Angelica, ebenfalls die Tochter von Immigranten, die im selben Sozialbau wohnt, spielt der Hauptprotagonistin zu. Sie schafft es in die Mädels-Clique und an dieser Stelle beginnt auch Amys Transformation.

Während Amy zu Anfang noch ein schüchternes, devotes Mädchen ist, das sich den Anforderungen und Traditionen der Familie beugt, wird sie in Gesellschaft der Mädchengruppe immer rebellischer, weiblicher und lasziver. Das äußert sich auch am Äußerem der 11-Jährigen. Inspiriert von den Gleichaltrigen beginnt sie kurze Hotpants, bauchfreie Tops, enge Lederleggings und deutlich zu viel Make-up zu tragen.

„Cuties“: Zwischen Gesellschaftskritik und pädophilen Absichten

Als Rudel sind die Mädchen nicht nur extrem laut und exzentrisch, sondern auch richtige Rowdies, die es trotz allem nicht schaffen, ihre Kindlichkeit verborgen zu halten. Ein Beispiel: Als eines der Mädchen auf dem Spielplatz ein benutztes Kondom findet, bläst es mit dem Mund auf und spielt damit. Als der Rest der Clique realisiert, um was es sich da tatsächlich handelt, sagen sie, sie hätte nun AIDS. Danach schrubben sie ihren Mund mit Flüssigseife und einer Bürste aus.

Das Tanzen mit der Mädchen-Clique erscheint Aminata wie eine Flucht in eine selbstbestimmte Welt. Die Teenager kleiden, bewegen und inszenieren sich hypersexuell. Ihre Vorbilder sind deutlich ältere Mädels aus dem Internet, die Kardashians und twerkende Tänzerinnen. Social Media scheint dabei ein unabdingbares Lern-Instrument zu sein, das ihnen dabei hilft, ihr übersexualisiertes Lolita-Image zu perfektionieren, nach außen zu tragen und Aufmerksamkeit zu generieren. Sie fassen sich an ihre Genitalien, lutschen an ihren Fingern und setzen ihre vermeintlichen „Reize“ ein, um aus brenzligen Situationen herauszukommen. In einer Szene twerken die Mädchen für einen Mann, der sie dabei erwischt, wie sie unerlaubterweise in einer Lasertag-Halle spielen. Ein anderes Mal suggeriert Aminata ihrem Cousin, mit ihm Sex haben zu wollen, wenn er niemandem verrät, dass sie sein Smartphone gestohlen hat.

Kritik an Social Media

Deutlich wird auch die Kritik an Social Media: Diese äußert sich besonders in einer Szene, in der Amy ein provokantes Video der tanzenden Mädchen-Clique online stellt und dafür massenhaft Likes und Herzchen erntet. Danach tritt sie noch selbstbewusster in Erscheinung, inszeniert sich noch sexueller und stolziert im knapper Kleidung durch die Schulhallen, während sie die Blicke ihrer Mitschüler_innen genießt. Die Szene zeigt ein verstörendes Bild, dass stellvertretend dafür steht, woher ein Großteil der Gesellschaft mittlerweile sein Selbstvertrauen bezieht — Instagram und Co. Ein anderes Mal postet sie ein Foto ihrer Genitalien und wird deshalb von ihren Freundinnen verstoßen. Als Konsequenz nimmt eine andere ihren Platz in der Tanz-Gruppe ein.

Amys Freude am Tanzen wird zur Obesession. Zum Ende des Films kommen auf die 11-Jährige zwei existenzielle Events zu, zwischen denen sie sich entscheiden muss: die Hochzeit des Vaters und ein Tanzwettbewerb. Als sie in der Sozialwohnung für wenige Sekunden auf die Braut des Vaters trifft, läuft sie davon, eilt zur Location, wo der Auftritt stattfinden soll und schreckt auf dem Weg dorthin auch vor Gewalt nicht zurück, um ihren Platz in der Gruppe wieder zurück zu erkämpfen. Sie stößt das andere Mädchen in einen Fluss.

Auf der Bühne, wo die Mädchen mit ihrem Auftritt sämtliche Eltern und Juroren schockieren und „Buh-„Rufe kassieren, erkennt Aminata unter Tränen, dass die Kontrastwelt, in der sie sich wochenlang geflüchtet hatte, weder Freiheit noch Selbstbestimmung bedeutet. Genauso wie in ihrer streng gläubigen Gemeinschaft herrscht auch hier ein patriarchales Regelwerk, das Frauen vorschreibt, wie sie zu sein haben. Nämlich sexy, verrucht und unterwürfig. Sie flieht von der Bühne und fällt ihrer Mutter in den provokativen, knappen Outfit in die Arme. Und die zeigt — entgegen aller Erwartungen — Verständnis, spricht ihr gut zu und sagt, sie müsse nicht zur Hochzeit des Vaters, wenn sie das nicht wolle. In der letzten Szene gibt es ein letztes Mal einen textilen Kontrast, in der Amy wie eine gewöhnliche 11-Jährige gekleidet, Seilspringen spielt.

Zuerst Lob, dann Shitstorm und Kritik

Konservative Kritiker_innen sprechen im Zusammenhang mit „Cuties“ von „kinderpornographischen Machenschaften„. Die Regisseurin soll die Mädchen mit den erotischen Posen und der Kameraführung zur Schau gestellt haben. Eine Petition mit über einer halben Million Unterschriften fordert, dass der Film vom Netflix-Programm genommen wird. Andere hingegen wollen Netflix gänzlich boykottieren.

Maßgeblich an diesem medialen Aufschrei beteiligt ist auch Netflix und die Art, wie für den Film geworben wurde. Anstatt wie auf sämtlichen Filmplakaten das Bild von den in die Lüfte springenden Mädchen zu verwenden, entschied sich Netflix für eine Momentaufnahme, die die Kinder beim lasziven Posen zeigt. Das sorgte für Fassungslosigkeit. Empörte User_innen warfen dem Streamingdienst — in diesem Fall berechtigterweise — Sexualisierung von Minderjährigen vor. Währenddessen rückten der Inhalt und die Botschaft des Films in den Hintergrund. Netflix entschuldigte sich öffentlich und zog das Werbebild wieder zurück.

Die Kritik am Film selbst schwellt aber seit dem nicht mehr ab und die Regisseurin ist weiterhin unter Beschuss. Seit dem heißt es mitunter, man müsse das FBI einschalten. Hinzu gesellen sich Verschwörungstheoretiker von QAnon-Bewegung, rechtskonservative amerikanische Medien wie „Breitbart“ und Politiker wie der republikanische Senator Ted Cruz.

So oder so. Regisseurin Maïmouna Doucouré hat mit „Cuties“ einen Nerv getroffen und ein Thema angesprochen, das wesentlich mehr Beachtung verdient. Dafür erntet sie nun Morddrohungen und heftige Kritik. Man wirft ihr Romantisierung und Glorifizierung von Kinderpornografie sowie sexuelle Ausbeutung von jungen Mädchen. Unberechtigterweise. Doucourézeigt in ihrem preisgekrönten und zu großen Teilen autobiografischen Film „Cuties“ unzählige Missstände auf — von einer hypersexualisierten Gesellschaft, über die Gefahren von Social Media und Essstörungen bis hin zur Unterdrückung von Frauen in modernen sowie traditionellen Gesellschaftskreisen. Und dafür wurde sie sogar beim Sundance Film Festival, wo der Film seine Premiere feierte, ausgezeichnet. Am 19. August 2020 lief er in französischen Kinos am. Die Kritiken fielen weitgehend positiv aus. Erst seitdem der der Film auf Netflix verfügbar und so der breiten Masse zugänglich ist, trudeln auch die Vorwürfe der Kinderpornografie und Ausbeutung ein.

Kunst als Werkzeug für Gesellschaftskritik

Es gibt viele Kanäle und Ventile, um Gesellschaftskritik zu üben. Musik zum Beispiel. Oder Bücher. In Artikeln klappt das auch ganz prima. Oder in der Malerei. Oder man wählt ein cinematografisches Instrument wie eben Filme. Letzteres bringt den/die Zuseher_in am nähesten an die Handlung und die Protagonist_innen heran, weswegen die Ressonanz durchaus heftig ausfallen kann. Wie man was vor die Linse inszeniert, muss wohl überlegt sein, weil hinter den Schauspieler_innen immer reale Menschen stehen. Im Raum steht dabei auch die Frage: „Darf Kunst alles?“ Oder in dem Fall noch konkreter: Kann man Missstände explizit aufzeigen, ohne sie gleichzeitig zu billigen? Vor allem mit einem visuellen Medium wie einem Film? Das britische Filmmagazin „Screen Daily“ stellte bei „Cuties“ beispielsweise fest, dass der Anblick der präpubertierenden Mädchen das reife Publikum explizit schockieren und sie mit einer übermäßig sexualisierenden Kultur konfrontieren sollte.

Natürlich schwingt stets die Gefahr mit, dass Menschen mit pädophilen Neigungen einige der Szenen aus dem Kontext reisen und sie für ihre eigene „Befriedigung“ zweckentfremden können. Allerdings kann das „Cuties“ ebenso passieren wie bei „Ein Zwillig kommt selten allein“ oder „Hannah Montana„. Tatsache ist nämlich, dass man anderen Menschen nicht in die Köpfe sehen und ihre Asoziazionen herausfiltern kann. Wer was mit welchen Bildern asoziiert und was Pädophile wirklich triggert, bleibt meist verborgen.

Doucouré, die beide Seiten — sowohl religiöse Dogmen als auch kapitalistische Gesellschaftsstrukturen — nur zu gut kennt, zeigt die fatalen Folgen von Unterdrückung auf heranwachsenden, sozial schwache und vernachlässigte Mädchen auf. Sie moralisiert nicht mit einem „Richtig-falsch-Cluster“, sondern verarbeitet das Erlebte, indem sie es visualisiert. Im Interview mit dem „Time Magazine“ sagte sie: „Ich habe versucht zu zeigen, dass unsere Kinder die Zeit haben sollten, Kinder zu sein, und wir als Erwachsene sollten ihre Unschuld schützen und sie so lange wie möglich unschuldig halten.“ Jeder, der versucht, Doucouré diese Absichten abzusprechen, hat den Film entweder nicht zu Ende gesehen oder ihn einfach nicht verstanden.

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