Von Michael Ossenkopp
Aachen. Herbst 1959: Der österreichische Kaufmann Franzkarl Schwendinger betreibt ein kleines, rustikales Speiselokal in Aachen. Doch mit wenig Erfolg. Eine neue Idee muss her, um den Laden wieder mit Leben zu füllen. Also gestaltet er das Lokal um und gibt ihm den neuen Titel "Jockey Tanzbar". Das sollte modern klingen - und wurde tatsächlich zum Trendsetter.
Zunächst jedoch hat Schwendinger ein Problem: Zu der Zeit ist es üblich, dass zum Tanz auch eine Live-Band spielt. Aber die kann sich der Wirt nicht leisten. Zur Eröffnung engagiert er daher einen Kölner Opernsänger, der die Gäste mit populärer Musik in Schwung bringen soll - abgespielt von Platten. Doch der Mann legt nur wortlos eine Scheibe nach der anderen auf, die Stimmung ist mehr als mau.
Vor Ort ist auch der damals 19-jährige Zeitungsvolontär Klaus Quirini, der für die Aachener Neue Ruhr Zeitung über den "neuen Tanzschuppen" berichten soll. Auch seine Begeisterung hält sich in Grenzen. "Es war total langweilig. Wir haben gelästert. Da kam der Inhaber zu mir und fragte, ob ich das denn besser machen könne", erinnert sich Quirini, "dann habe ich mich dahingestellt."
Bei seiner ersten Ansage muss er seine Zunge noch mit ein paar Whisky lösen: "Meine Damen und Herren, wir krempeln die Hosenbeine hoch und lassen Wasser in den Saal, denn ein Schiff wird kommen mit Lale Andersen." Dafür erntete er tosenden Beifall. Schon bald verliert der Youngster seine anfängliche Scheu.
Er hat 1000 Sprüche auf Lager, ist Ansager, Vortänzer und Stimmungskanone in einer Person. Zu jedem Titel bewegt sich der 1,90 Meter große und nur 65 Kilogramm leichte Schlaks im Rhythmus mit und heizt der Partymeute mächtig ein. Doch seine Familie begegnete dem neuen Hobby mit Argwohn. Ein Großvetter Quirinis ist Landgerichtsdirektor in Bonn und gerade auf dem "Spiegel"-Titel abgebildet, sein Vater hat die Deutsche Bank in Aachen nach dem Krieg wirtschaftlich mit aufgebaut - kurz: Aus dem Junge sollte was Besseres werden als (Schall-)Plattenleger.
Doch es kam anders. Erstens hatte der junge Mann bei seinem ersten Auftritt Blut geleckt und Schwendinger schnell dessen Talent erkannt. Er engagiert ihn für 800 Mark im Monat. "Für mich damals ein Vermögen", sagt Quirini. Und weil das Volontariat bald ausläuft, tauscht er Schreibmaschine mit Plattenspieler. Als Kompromiss an die Familie verspricht Quirini, nicht unter seinem echten Namen aufzutreten. Er wühlt in seinen Plattenkisten und nennt sich "Heinrich" - inspiriert von "Oh Heinrich, ich hab nur dich", einem Lied von Trude Herr. Bald legt Heinrich jeden Abend auf - und der Schuppen brummt bis in die frühen Morgenstunden.
Die ersten Diskotheken der Welt gab es bereits im besetzten Paris des Zweiten Weltkriegs. Da war es aber noch üblich, dass kleine Musikkapellen live spielten. DJs wiederum gab es schon im Radio, Chris Howland zum Beispiel. Aber der Mix aus Musik vom Plattenteller und flotten Sprüchen direkt vom Mischpult neben der Tanzfläche macht Quirini zum ersten Discjockey der Welt. Anfangs wird er belächelt. Die Idee habe keine Zukunft. Und die Musik aus der Konserve wird von der Konkurrenz, die ihre Bands noch live auftreten lässt, als "tot" abgetan. Trotzdem revolutioniert die Idee "Tanzbetrieb mit Schallplatte plus Plattenaufleger" eine ganze Branche. Der Begriff "Diskothek" aber etabliert sich erst ab Mitte der 60er Jahre.
Die "Heinrich-Nächte" sprechen sich über die Grenzen hinaus herum, bald kommen Besucher auch aus den nahen Nachbarländern Holland und Belgien. Noch hat die "Jockey Tanz Bar" ein eher rustikales Interieur mit massiven Wirtshausmöbeln. Später wird aus ihr der legendäre "Scotch Club", mit dunklen Holzmöbeln und Sitzgarnituren in Schottenkaro. Im Programm sind jetzt auch Modenschauen mit tanzenden "Mannequins". Stars wie Gilbert Bécaud, Howard Carpendale oder Udo Jürgens schauen vorbei.
Und Aachen mausert sich zum unbestrittenen Disco-Mekka. Innerhalb weniger Jahre gibt es hier mehr als 40 Diskotheken. Der Siegeszug zieht schließlich durch die Länder und Metropolen ganz Europas, immer mehr Betreiber kopieren Schwendingers Idee und auch den "DJ Heinrich". Die Besucher schätzen die große Auswahl an unterschiedlicher Musik und den satten Sound. Nach und nach spezialisieren sich die Macher auf bestimmte Stilrichtungen, überall entstehen neue Clubs. Ende der 60er-Jahre ist die Diskothekenszene vielschichtig, es gibt Beatclubs, Heavy-Metall-, Pop- und Schlagertreffs. Das Motto für die Nachtschwärmer liefert ab 1971 Ilja Richters TV-Kultsendung "disco": "Licht aus - Spot an".
Erst zu dieser Zeit, mit mehr als zehnjähriger Verspätung, erreichen Diskotheken auch die USA. Anfänglich nur in Underground-Schwulenclubs hip, avanciert die Funk- und Discobewegung unaufhaltsam zum Massenphänomen. Jetzt gibt es sogar eigene Disco-Musik, Songs wie "Kung Fu Fighting" von Carl Douglas, "Shame, Shame, Shame" von Shirley & Company und "You Sexy Thing" von Hot Chocolate ebnen den Weg.
Der Höhepunkt wird 1977 erreicht, als die Bee Gees mit Hits wie "Stayin’ Alive" aus dem Film "Saturday Night Fever" mit John Travolta alle Hitparaden stürmen. Berühmt berüchtigte Nachtclubs wie das "Studio 54" in New York kennt nun jeder, Glitzerpaläste mit der unverwechselbaren Discokugel und die aufwendige Technik mit Licht- und Lasershows werden zu Standardelementen. Über den Unterschied zwischen einer Diskothek und einer Disco sagt Quirini: "In einer Diskothek wird Musik durch Moderation lebendig gemacht, in einer Disco durch Effekte wie Nebel oder Glitzerkugeln."
Fast alle Heranwachsenden - von den Swingin’ Sixties bis heute - verbinden einen Großteil ihrer Jugenderinnerungen mit einer Diskothek. Die Wochenenden dort stehen für Spaß, Tanzen, Freunde treffen, Alkohol trinken, Kennenlernen, vielleicht den ersten Flirt, Schmuseblues oder gar die Begegnung mit dem heutigen Partner. Jährlich bis zu 100 Millionen Besucher im Disco-Fieber bescherten den Besitzern in der Bundesrepublik über Jahrzehnte goldene Zeiten.
Auch in der DDR strömten rund 50 Millionen Gäste pro Jahr zu den heimischen Tanzvergnügen. Obwohl die Staatsführung 1964 beschlossen hatte, westliche Rock- und Popmusik als "imperialistische Unkultur" zu verdammen, war der Sturm auf die Discoveranstaltungen nicht aufzuhalten. Für die "staatlich anerkannten Schallplattenaufleger", wie die DJs im Osten offiziell genannt wurden, keine leichte Aufgabe, mussten doch 60 Prozent der gespielten Musik aus der DDR oder den sozialistischen Bruderländern stammen. Aber die jugendlichen Partyfans wollten lieber Stones und Beatles hören.
Klaus Quirini gründete in den 60er- und 70er-Jahren verschiedene Berufsverbände für DJs und Disco-Betreiber. Inzwischen ist er Berater, Autor, Dozent und Experte für Musikrecht. Wirtschaftlichen Erfolg brachte ihm seine Firma "Neuphone" mit dem Verkauf von Discokugeln, Leuchten und Rauchmaschinen. Das Fazit des DJ-Pioniers lautet: "Die Diskotheken-Szene hat sich in den letzten 60 Jahren kaum verändert. Früher wurde nur wesentlich mehr getrunken." Eine recht gravierende Veränderung gab es aber doch - die Kleiderordnung. In der "Jockey Tanz Bar" blitzten damals Frank Elstner oder Udo Lindenberg trotz Promi-Bonus einfach ab - weil sie keine Krawatte trugen.
Die erste Diskothek der Welt ist schon seit 1992 geschlossen. Der neue Besitzer des "Scotch-Club" hatte keine Betriebsgenehmigung mehr erhalten - den Nachbarn war die Musik zu laut. Zwischenzeitlich war in dem Lokal eine Modeboutique, die aber immerhin noch die Musik im Namen hatte: Tango. Heute steht der Laden in der Aachener Innenstadt leer.
Und DJ Heinrich? Der ist heute 79 und bekennender Heavy-Metal-Fan. Wenn irgendwo Britney Spears gespielt werde, stehe er auf und gehe, hat er mal erzählt. Platten legt er schon lange nicht mehr auf, er habe auch gar nicht mehr viele Vinyl-Scheiben. Musik hört Klaus Quirini heute über Streaming-Dienste.